Vernon Subutex: eine Gesellschaft auf dem Weg nach unten
Die Geschichte von Vernon Subutex und seinen unzufriedenen Zeitgenossen spiegelt eine Gesellschaft zwischen Überdruss und Obdachlosigkeit. Es ist eigentlich ein Dreiteiler, aber mir gefielt das erste Buch auch als (nicht) abgeschlossene Geschichte. Was ansonsten geschah, während dieser Artikel als Entwurf herumlag, steht in den anderen Blogartikeln. Aber was in der Gesellschaft geschieht, das hat Virginie Despentes schon 2015 treffend zusammengefasst. Schade, dass das Buch erst später auf deutsch erschien und noch später erst bei mir landete. Scheinbar warten einige spannende Neuerscheinungen der letzten Jahre noch auf ihre Entdeckung!
Generation Selbstmitleid in der Midlife-Crisis
Manche scheinbar unbedeutenden Bücher faszinieren selbst dann, wenn sie eigentlich zunächst zu langweilig und irrelevant erscheinen. Schon wieder hat mich die subjektive Klage alter weißer Männer in den Bann gezogen, allerdings hier meist in indirekter Rede und aus der Feder einer französischen Skandalautorin. Vernon Subutex, Titel und Protagonist ihres gleichnamigen Romans, spiegelt die Gesellschaft aus der Sicht eines ehemaligen Schallplattenverkäufers, der notgedrungenn bei ehemaligen Weggefährt:innen aus besseren Zeiten unterkommt und mit anhören muss, wie alle auf ganz unterschiedliche Weise unzufrieden mit ihrem Leben sind. „DER Gesellschaftsroman unserer Zeit,“ wie es das Feuilleton lobte, ist Teil einer Trilogie von Virginie Despentes und entlarvt (nicht nur) die Generation X als Generation Selbstmitleid: beruflich erfolgreiche, aber völlig frustrierte Pariser:innen, die sich gegenseitig das Leben schwer machen, die Schuld immer bei den anderen suchen und sich in kurzsichtigen Hasstiraden ergehen, ohne über ihre eigene Blase hinaus zu blicken. Lesenswert vor allem durch den distanzierten Blick des Absteigers, der veilleicht als einiger der wenigen noch lebender Slacker mit der heutigen Gesellschaft wenig anzufangen weiß und erstaunlich entspannt mit seinem persönlichen Abstieg umzugehen scheint.
Roxy ist nicht überall
Den Titel Roxy hat Johann von Bülow angeblich gewählt, „weil es in jeder Stadt ein Roxy“ gibt, was natürlich überhaupt nicht stimmt. Aber auch dieser Roman ist unabhängig von Nostalgie und Lokalkolorit eine Lebensgeschichte suchender Menschen, die ich eigentlich gar nicht als Freundschaft bezeichnen mag, so egoistisch und empathielos wie mindestens einer von ihnen daherkommt. Roxy ist zwar ein nostalgisierender Rückblick aber dennoch nicht gerade Mainstream („wäre mein Leben anders verlaufen hätte ich damals 1860 gesagt?“) Ich habe den Roman schon letztes Jahr gelesen, als seine Summertime Sadness von sonniger Strandfreude kompensiert wurde. Wer mehr Tiefe und Dunkelheit sucht, sollte vielleicht stattdessen Dunkelgrün fast schwarz von Mareike Fallwickl lesen.
Verfrühte Fußnote: Goosen, Stanišic und Krien
„Goosen auch nennen,“ notierte ich unter dem ersten Entwurf dieses Artikels, was zwar wenig originell und vielleicht noch irrelevanter als die anderen klingt, aber Goosens Gestalten sind die kleinen Vernons des Ruhrgebiets, die ihren 18. Geburtstag im Schrebergarten feierten, die Berliner Mauer noch von beiden Seiten gesehen haben und sich mehr oder weniger nonchalant durch ihr leben gewurschtelt haben. Liegen lernen wurde sogar verfilmt, die Schrebergarten- und Hinterhofszenen las er im Radio, aber Kein Wunder wäre meine Empfehlung, wenn du nur ein einziges Buch von Frank Goosen lesen willst.
Auch Saša Stanišić ist zu bekannt für einen Geheimtipp, und seinen Roman Vor dem Fest habe ich noch nicht zu Ende gelesen, aber vielleicht ist Stanišić quasie der Brandenburger Bruder von Goosen, wenn man das so sagen mag. Aber was Ostdeutschland angeht, würde ich tendenziell immer Daniela Krien empfehlen. Irgendwann werden wir uns alles erzählen habe ich bereits erwähnt, aber auch alle anderen, nicht zuletzt Die Liebe im Ernstfall gehören auf deinen Stapel (un)gelesener Bücher.
Irre Wolken
Zu guter letzt ein spezielles Buch, das mich persönlich sehr berührt hat, nicht nur weil ich in meiner Zeit in Münster Woche für Woche die Anzeige las „Die Band Erdmöbel sucht noch einen Bassisten“. Einen Sänger und Songwriter hatten sie ja schon, und weil Songs vielleicht für manches zu kurz sind, hat Markus Berges ein Buch geschrieben, das erkennbar autobiographische Züge trägt. Die Fahrt mit dem Tourbus zum einzigen Gig einer Hollandtournee hätte auch bei Goosen stehen können. Die einschüchternde Kleinbürgerlichkeit und die sanfte Rebellion durch den Zivildienst, der den schüchternen Jungen mit ganz anderen Lebensrealitäten konfrontiert und die Freiheit dieser krassen Coming-of-Age-Situation, so unspektakulär sie für Außenstehende erscheinen mag, sind mir selbst nicht unbekannt. Ich weiß nicht, wie sich Irre Wolken für „Außenstehende“ liest, aber ich möchte es definitiv empfehlen.