Was mich viel mehr erbost als die Ignoranz politikverdrossener Wähler:innen ist die Ignoranz der Klein(st)parteien durch die Medien. Kürzlich schrieb die Industrie- und Handelskammer Berlin eine E-Mail mit dem Ergebnis ihrer Recherchen, wie die aktuell im Senat vertretenen Parteien zu bestimmten politischen Fragen stehen: Klima, Industrie, Mieten, Steuern, Autobahn-Ausbau und Flughafen-Kosten. Das ist tatsächlich sehr hilfreich, zumal bei der Erststimme tatsächlich nur wenige andere Parteien zu Wahl stehen. Aber ähnlich wie die Berichterstattung und Kommentare der Zeitungen und Fernsehsender vor den Bundestagswahlen kann hier leicht der Eindruck entstehen, dass es gar keine andere Wahl gäbe. Manche warnen sogar ausdrücklich davor, durch das Ankreuzen einer kleinen Partei die Stimme zu „verschenken“, also zu verschwenden.
Was ist meine Stimme überhaupt wert?
Seien wir ehrlich: meine einzelne Stimme ist nicht viel wert. Selbst als privilegierter älterer Mann in einem der reichsten Länder der Erde reicht mein Einfluss nicht weit. Auch Gespräche und Artikel wie diese werden wohl leider nur wenig daran ändern, so wenig wie es Elon Musk interessiert, das ich versuche, Twitter zu boykottieren. Aber was passiert, wenn ich nicht der einzige bin, ist am Beispiel Twitter und Tesla gut zu sehen. Werbekundschaft zieht sich zurück, Aktienkurse sinken, und die öffentliche Beliebtheit schwindet und vekehrt sich ins Gegenteil.
Andererseits bin ich auch schon mit zehntausenden anderer Menschen zusammen friedlich bei Fridays for Future durch die Stadt gelaufen, und eine halbe Million Menschen hat vor der russischen Botschaft gegen den Angriff auf die Ukraine protestiert, und dennoch ist nicht viel passiert.
Wenn die Bedeutung meiner einzelnen Stimme also relativ gering ist, warum darf ich sie dann nicht an kleine Parteien „verschenken“? Ich darf, ich kann und ich werde das tun und dafür werben, dass diese Leute beachtet werden.
Kleine Parteien als Impulsgeber
In meiner Jugend hieß es immer, es sei falsch, die Grünen zu wählen, da sie nicht über die 5%-Hürde kommen und somit fehle eine solche Stimme der SPD, wodurch die Wahl letztlich der CDU nütze. Dieses Rechenbeispiel mag wahltaktisch nicht ganz unberechtigt gewesen sein, führte aber auch dazu, dass jahrzehntelang fast alle entweder CDU oder SPD gewählt haben, obwohl nach Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl fast alle Spitzenpolitiker:innen ziemlich unbeliebt erschienen.
Die Grünen sind eine der wenigen Parteien, die unerwartet groß und bedeutend wurden. Andere, wie die Piraten, wurden nie zur mehrheitsfähigen Volkspartei, was sie aber auch gar nicht wollten. Sie konnten jedoch Themen in die politische Diskussion einbringen, die sich inzwischen auch andere zu eigen gemacht haben.
Ähnlich werden Volt, Klimaliste, ÖDP oder Tierschutzpartei vielleicht niemals groß herauskommen, aber ihre Themen sind wichtig, und allein deshalb wäre es falsch, sie in der politischen Diskussion zu ignorieren.
Briefwahl als Abendlektüre
Ich lese meine Wahlzettel gerne in Ruhe und recherchiere unbekannte Listen und Kandidat:innen, selbst wenn ich meine Entscheidung schon längst getroffen habe. Eine Hip-Hop-Partei? Türkische Namen? Ein Straßenmusiker namens „der nackte Cowboy“ als Oberbürgermeister-Kandidat für Düsseldorf?
Die Briefwahl gibt mir die Zeit, zu würdigen, wer sich in der Politik engagiert, und das umfasst auch die Rechten. Engagiert euch! Wenn es euer größter Wunsch im Leben ist, in einem Kaiserreich zu leben, dann geht zur Schneiderin, lasst euch schöne Uniformen schneidern und stellt euch mit eurem Gesicht und eurem Namen zur Wahl. Vielleicht sind unter auch ja auch Patrioten, die nichts von Blut und Rasse halten und die verstanden haben, dass Naturschutz auch Schutz der Heimat bedeutet. Aber dann interessiert es euch vielleicht auch, dass die bekannten Grünen nicht die einzige Partei ist, die für Naturschutz eintritt, und es durchaus auch konservative Alternativen gäbe.
Größere Chancen bei Kommunal- und Europa-Wahlen
In der Lokalpoltik gelten oft andere Regeln als bei den Bundestagswahlen. Während im Berliner Abgeordnetenhaus die übliche 5%-Hürde und ein Wahlrecht ab 18 Jahren gilt, dürfen schon 16-jährige für die Bezirksvertretungen wählen, und dort genügen 3% der Stimmen.
Die Berliner Klimaliste ist bei der Berliner Wahlwiederholung zwar nicht mit der Erststimme, wohl aber mit der Zweitstimme und auf dem dritten Zettel, dem für die Bezirksvertretung, wählbar, zumindest dort, wo ich wohne.
In Düsseldorf, meiner früheren Heimatstadt, hat die Klimaliste zusammen mit der satirischen Partei „Die PARTEI“ zu einer Fraktion zusammengeschlossen und ist seit der letzten Wahl im Stadtrat vertreten. Die PARTEI wiederum sitzt auch im Europaparlament, wo Nico Semsrott seine Redezeit bereits für denkwürdige Protestaktionen nutzte.
Ein Blick in andere europäische Länder zeigt, dass Comdiens erfolgreich in die Politik wechseln können, vielleicht weil sie die letzten sind, die noch ein bisschen Authenzität bewahrt haben?
Dieser Artikel ist keine Wahlempfehlung für eine konkrete Partei, aber ein ganz klare Empfehlung, das eigene Wahlrecht zu nutzen und die nur scheinbar unbedeutenden kleinen Parteien nicht zu ignorieren.