Als ich aufgefordert wurde, darüber zu bloggen, was für mich gesunde Produktivität bedeutet, erschien das Thema anfangs relativ banal. Freiheit, Flexibilität, Work-Life-Balance, und nicht zu viel arbeiten, die üblichen Tipps und Wünsche, die inzwischen jede Illustrierte zum Thema „New Work“ wiederholt, wenn ihnen sonst nichts anderes mehr einfällt. Aber Arbeitgeber, die sich ernsthaft bemühen, für Diversität und gute Arbeitsbedingungen zu sorgen, bleiben Arbeitgeber, und jenseits der so genannten freien Wirtschaft musste ich im öffentlichen Dienst und im Ehrenamt viel toxische Vibes entdecken. Hier und dort werden oft jene, die sich ohnehin mehr als andere engagieren, noch weiter ausgenutzt und ausgebrannt (Burnout), oder langweilen sich in irrelevanten Jobs zu Tode (Boreout).
„Du musst wütend bleiben. Und glücklich“
Großartige Inspiration des jungen Schauspielhauses in einer Zeit als pandemiebedingt bald das ganze kulturelle Leben zum erliegen gebracht würde. Wut wird oft missverstanden und als unerwünschtes Gefühl betrachtet. Natürlich möchte ich auch gerne glücklich, euphorisch und offen sein, aber es gibt auch gute Gründe, wütend zu sein.
Wut entsteht oft aus Machtlosigkeit. Trauer, Enttäuschung und Schmerz fühlen sich schwach und hilflos an, Wut und Ärger geben ein Gefühl von Kraft und setzen Motivation und Energie frei.
Aber was wiederum bedeutet frei? Und wie frei sind wir wirklich? Auch als scheinbar sehr privilegierter Mensch fühle ich mich oft ziemlich machtlos. Ja, es ist ganz bequem und angenehm, mitzumachen in diesem System mit seinem Wohlstand und Wachstum, aber das fühlt sich manchmal zurecht an wie ein Leben im goldenen Käfig.
Von Achtsamkeit und Work-Life-Balance ist oft die Rede, wenn Tipps für größere Zufriedenheit mit der Arbeit und dem Leben gegeben werden. Von Wut und Witz ist seltener die Rede, und vielleicht sind diese Ratgeber deshalb so ernst und so langweilig. In meinem Artikel Produktive Prokrastination statt scheinbarer Produktivität bloggte ich bereits über Rant Time und Mittagsschlaf. In diesem Artikel möchte ich daher nicht nur der vermeintlichen Faulheit, sondern auch Wut und Ärger zu Respekt und Wertschätzung verhelfen.
Meine Blog-Artikel schreibe ich in erster Linie für mich selbst, und inzwischen oft parallel auf deutsch und englisch, oft auch in mehreren Varianten, da viele Themen allgemeine, kreative, aber auch sehr spezifisch technische Aspekte haben, die mit meiner Arbeit als Web-Entwickler zu tun haben. Das öffentliche Schreiben erleichtert es, meine Gedanken zu fokussieren und einigermaßen verständlich zu formulieren, dennoch lasse ich es mir nicht nehmen, abzuschweifen. Auch die mehrfach erwähnten technischen Hilfsmittel beim Schreiben (Autokorrektur und Vervollständigungsvorschläge, LEO, Linguee, Grammarly und Stilanalyse) sind eben nur Hilsmittel, und ich würde viel dabei verlieren, wenn ich das Schreiben an chatGPT delegieren und nur noch Fakten checken und korrektur lesen würde, was die künstliche „Intelligenz“ fabrizierte.
Dieser Artikel, auf deutsch nun Wut, Witz und „gesunde Produktivität“, heißt auf englisch Anger, Happiness, and „Healthy Productivity“, wobei ich mir zunächst gar nicht sicher bin, ob „Rage“ oder „Anger“ die treffendere Bezeichnung wäre. Auch „Rants“ hatte ich als Alternative überlegt und mich schließlich entschlossen, pragmatisch auf Perfektionismus und Overthinking zu verzichten und die Artikel endlich abzuschließen und zu veröffentlichen. Die Techie-Nerd-Version des ganzen greift als Anger, Laziness, and Healthy Productivity auch den Aspekt der vermeintlichen Faulheit noch mal auf.
Wie frei ist die Freiheit als Freelancer?
Vielleicht habt ihr schon mal den Begriff „Scheinselbstständigkeit“ gehört, um den es hier aber nicht im juritischen oder steuerrechtlichen Sinne gehen soll. Das Wort beschreibt aber auch ganz gut das Problem, das viele Firmen immer noch mit der modernen Arbeitswelt haben. Der sogenannte Fachkräftemangel, so heißt es ja auch, ist kein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, sondern ein mangel an guten Arbeitsplätzen.
Als gefragter Facharbeiter habe ich die Freiheit, Jobangebote abzulehnen und ernsthaft das Ziel zu verfolgen, Spaß an meiner Arbeit zu haben und damit auch noch gutes in der Gesellschaft bewirken zu wollen. Für die meisten Angestellten bleibt das leider ein unerreichbares Ziel, aber selbst die, die es könnten, wagen oft nicht den Ausbruch aus dem goldenen Käftig. In der Psychologie nennt sich dieser Effekt „erlernte Hilflosigkeit“.
Aber diese Freiheit ist natürlich auch ein Luxus und ich möchte niemanden dafür kritisieren, ungeliebte Arbeit zu machen und bloß innerlich zu kündigen. Aus dem Privileg ergibt sich auch Verantwortung für die mitzukämpfen, die sie (noch) nicht haben.
Freiheit, mich beruflich weiterzuentwickeln, bedeutet für mich auch Zeit zu experimentieren, mich inspirieren zu lassen, mich mich anderen ausztauschen und neues zu lernen, und zwar auch neues, das nicht unmittelbar für die aktuelle Arbeit benötigt wird. Freiheit bedeutet auch, die Zeit flexibler einzuteilen, einen sonnigen Nachmittag spontan draußen zu verbringen, mir Zeit für Freund:innen zu nehmen oder unnötig lange an einem Blogartikel wie diesem zu schreiben. Außerdem schätze ich die Vielfalt unterschiedlicher Kund:innen und Projekte, daher nehme ich gerne auch kleinere Aufträge an. Die wichtigste Freiheit ist die Freiheit, nein zu sagen.
Wenn ich all diese Freiheiten habe, bin ich dann frei? Vielleicht habe ich zu viel Spaß an der Arbeit oder kann mich von einem kniffligen Problem nicht losreißen oder jage digitalen Erfolgserlebnissen hinterher, anstelle mehr Pasuen zu machen? Vielleicht verzetteln wir uns auch mal wieder in Details konkreter Projekte, die aber insgesamt ziemlich irrelevant sind und überhaupt nicht so viel Wertschätzung verdient haben.
Work-Life-Balance und schlimmere Probleme
Wut ist jedenfalls ein guter Grund, innezuhalten und sich zu fragen, ob etwas nicht in Ordnung ist.
Manchhmal braucht es bloß eine Pause, manchmal habe ich mich in einen verkehrten Lösungsansatz verbissen und sollte die Sache auf eine andere Weise angehen. Oft hilft es dann, das Problem aufzuschreiben oder einer anderen Person zu schildern. Vielleicht ergibt sich daraus schon die Lösung. Wenn nicht, dann kann ich eine Frage oder einen Forumsbeitrag verfassen und dann erstmal Pause machen oder mich einer anderen Aufgabe zuwenden, während vielleicht jemand anderes auf die naheliegende Lösung oder auch einen bekannten Softwarefehler hinweist.
Nicht selten kommt es vor, dass wir Dinge nicht so verwenden, wie sie gedacht waren. Mir passiert das besonders dann, wenn jemand anders einen Lösungsweg vorgegeben hat, der überhaupt nicht zu meiner Arbeitsweise passt. Daher habe ich mich oft über Software aufgeregt, sei es React, Webpack oder WordPress. Während es auf Baustellen üblich oder zumindest nicht ungewöhnlich ist, zu fluchen, sorgt das im Büro eher für Befremden und besorgte Blicke. Also habe ich versucht, stiller zu sein, meinen Ärger in Form ironischer Artikel oder ärgerlicher Fehlermeldungen zu verfassen, oder aber Notizen zu machen, was ich selbst im nächsten Projekt anders machen würde.
Was die Sinnlosigkeit von Effizienz, Gelassenheit und Work-Life-Balance in irrelevanten oder schädlichen Tätigkeiten angeht, bleibt eben auch nur, sich immer wieder die Frage zu stellen, warum mache ich das hier eigentlich gerade? Wem nützt es? Entweder möchte ich selbst etwas lernen, Spaß haben, oder Geld verdienen, oder ich tue etwas für andere Menschen oder zur Lösung globaler Probleme. Gerade in der IT, aber auch generell in der „freien Wirtschaft“ gibt es so vieles, was falsch läuft. Karriere, Sexismus, Rassismus, Umweltzerstörung und unnötiger Stress und Ärger. Das lässt sich nicht alles wegmeditieren oder unterdrücken, und das wäre auch falsch.
Use our Privilege and stop being the typical Tech-Guy
Als privilegierte Person können wir schon einiges ändern, und sei es „nur“ für diejenigen, die viel mehr Ärger haben als wir. Wir können und sollten aus aussuchen, für was, für wen und mit wem wir arbeiten und wo wir unser Geld ausgeben und investieren. Vielleicht haben wir ja ein Wörtchen mitzureden, bevor der nächste weiße deutsche Tech-Typ eingestellt wird, der so gut ins Team passt. Vielleicht können wir auch selbst ein bisschen weniger der typische Tech-Typ sein, der unwissentlich dazu beiträgt, dass die gut bezahlten IT-Jobs von Leuten wie ihm dominiert werden. Auf jeden Fall können wir dazu beitragen, dass die Stimmen der anderen lauter werden, indem wir ihre Beiträge liken, teilen und upvoten, beispielsweise Abbey Perinis Artikel 8 Ways to Support Women Developers, der sehr konkrete und präzise Aspekte des Arbeitsalltags anspricht, oder The Intersectional Environmentalist, ein Buch und eine Initiative von Leah Thomas, die sich eine gerechtere und diversere Zukunft der Umweltbewegung vorstellt. Manuela Rodriguez-Correa („Twisted Connection“) zeigt, wie innovatives Training und Coaching aussehen kann.
Außerdem können wir als Selbstständige, zumindest wenn wir nicht gerade völlig verzweifelt und pleite sind, entscheiden mit wem und wie wir arbeiten, welche Prioritäten wir setzen und unseren Kund:innen anraten. Als nachhaltiger Webentwickler versuche ich, langlebige und barrierefreie Websites zu entwickeln, die schnell laden und die Spaß machen. Ökologische Effizienz und wirtschaftliche Nachhaltigkeit sind idealerweise kein Gegensatz, sondern eine Synergie. In der Praxis muss ich zwar oft Kompromisse machen, aber ich weiß, in welche Richtung ich mich bewege.
Gesunde Produktivität bedeutet für mich nicht nur, oft genug vom Schreibtisch aufzustehen, um Pausen und Sport zu machen oder mit anderen Menschen zu sprechen, sondern das bedeutet auch, dass ich faul sein darf, weil es meiner Kreativität gut tut, und wütend, wenn ich einen Grund dazu habe.